Turn-Table Farm: Bauernhof unter der Mitternachtssonne

Turn-Table Farm und GeleiseHelsinki Pasila – ein riesiges Bahnhofsareal etwas außerhalb von Helsinkis Stadtzentrum durchschneidet die Stadt. Zwischen all den Geleisen und abgestellten Zügen kann man etwas tiefer liegend alte Lokschuppen in Ziegelbauweise erkennen. Dort soll die Turn-Table Farm – The Urban Garden liegen, benannt nach der Drehscheibe, auf denen die Lokomotiven in die richtigen Abteile verteilt wurden. Doch wie dorthin gelangen? Der Weg über die Geleise, über die in regelmäßigen Abständen die Züge donnern, scheint nicht wirklich vertrauenerweckend zu sein, doch ein anderer Zugang ist hier nicht auszumachen.

Nach einigen Suchen offenbart sich etwas versteckt eine Unterführung, die unter den Geleisen direkt zu den Lokschuppen führt. Aus der Unterführung herausgekommen präsentiert sich bereits die nächste Überraschung: plötzlich steht man vor einem rauchenden und pfeifenden Stahlross. Eisenbahn-Aficionados sind gerade am Restaurieren einer alten Dampflok und vor dem Hintergrund der alten Lokschuppen fühlt man sich plötzlich in das vorherige Jahrhundert versetzt. In der Mitte des Platzes eine riesige Drehscheibe, auf der dann später die Dampflok auf die Schienen gebracht wird, doch von einer Urban Farm ist hier nichts zu sehen.

Turn-Table Farm und alte LokErst auf den zweiten Blick erkennt man, dass man noch ein Stück weiter-wandern muss um zum zweiten Lokschuppen zu gelangen und hier schimmert durch das Laub der Bäume eine große, dreieckige Glashaus-ähnliche Konstruktion im Licht der frühen Abend-sonne. Im Näherkommen erkennt man erste Pflan- zen und grobe Tische und Stühle vor der Urban Farm. Eine junge Frau pflanzt gerade Stiefmütterchen in textile Gefäße und aus der Urban Farm ist Werkzeuglärm zu vernehmen. Wie sich herausstellen wird ist es Jaakko, der gerade an der Haltekonstruktion für die Bewässerung arbeitet. Doch was am Betreten der Urban Farm am meisten überrascht, ist der Pflanzenreichtum: links und rechts suchen in langen Hochbeeten gerade die Tomaten an den gespannten Schnüren ihren Weg nach oben, Salat wuchert mit Kräutern um die Wette und in der Mitte, wo derzeit ein provisorischer Tisch in Zukunft die Besucher zum Sitzen und Verweilen einladen soll, Setzlinge und Pflanzen in Töpfen und Steigen.Turn-Table Farm und Glashaus

Mit der Turn-Table Farm zur Unabhängigkeit

„Es ist noch viel zu tun“ begrüßt mich Jaakko in typisch finnischer Art, die ohne Umschweife auf den Punkt kommt, und legt für einen Moment sein Werkzeug beiseite. Er ist für den Anbau verantwortlich bei der Urban Farm. „Wir müssen noch die automatische Bewässerung fertig stellen.“ „Sie soll vollkommen autark arbeiten und dazu haben wir am Dach Solarpaneele installiert, die den Strom für die Pumpen liefern.“ Damit hat Jaakko bereits einen der wesentlichen Punkte angesprochen, die die Turn Table Farm – The Urban Garden anstrebt: möglichst weitgehende Unabhängigkeit. Deswegen gibt es auch ein Cafe, das nicht nur zum Verweilen auf der Urban Farm einlädt, sondern auch zur Finanzierung des Betriebes beiträgt. Sowie dann geerntet werden kann, werden die Erzeugnisse des Urban Gardens für diverse Speisen verarbeitet.

Begonnen hat das Projekt bereits 2009 mit den ersten Versuchen hinter den Lokschuppen. Überwuchert findet man noch Zeugnisse der ersten Urban Farm, die im Ambiente der Ziegelfassaden eine romantische Komponente aufweisen. Doch was auf den ersten Blick verwildert zu sein scheint, birgt auch ein großes Kapital: „Dort hinten steht ein wesentlicher Bestandteil unseres Urban Farming Konzepts“ so Jaakko – „eine Trockentoilette. So können wir unseren eigenen Dünger produzieren“. Und tatsächlich: Prominent ragt ein etwas groß geratenes „Häusl“ zwischen den Sträuchern hervor. Kein ordinäres Plumpsklo mit Brett und Loch in der Mitte sondern neueste Technik soll wertvollen Dünger für die Urban Farm herstellen. Und wer die Sommer-häuser der Finnen an den Tausenden von Seen kennt, die in vielen Fällen nicht einmal über Licht und fließendes Wasser verfügen und wo das Plumpsklo zum Standard gehört, weiß, dass man hier in Finnland über das nötige Know-how verfügt.

Urban Farm als Insel eines neues Wohnquartieres

„Was ist eigentlich eure Mission“ frage ich Jaakko auf dem Weg zurück zum Urban Garden. „Hinter der Urban Farm steht die Umweltorganisation Dodo und wir sind eine urbane Bewegung, die durch Wissen und Argumentation etwas bewegen möchten. Viele Male fehlt es an Bindegliedern zwischen den Aktivitäten des Einzelnen und der übergeordneten Umweltpolitik der Staaten. Dodo möchte hier verbindend tätig sein und diese Lücke auffüllen und einer dieser Schwerpunkte ist zum Beispiel unser Thema: Rhythmus der Stadt. Wie können Städte und urbaner Lebensstil aussehen, die ein angenehmes Miteinander ermöglichen und dabei auch auf die Umwelt Rücksicht nimmt. Und dabei spielt natürlich die Lebensmittelproduktion und Ernährung eine wichtige Rolle.“ referiert Jaakko und nun wird mir auch klar, warum Helsinki, die ja heuer den Titel „World Design Capital“ trägt, die Turn-Table Urban Farm mit in ihr Programm aufgenommen hat. Geht es doch den Programmverantwortlichen der World Design Capital Helsinki 2012 im Besonderen um die Frage, wie Design zu Offenheit, Kontinuität und Zusammenarbeit führt und deren Auswirkungen auf das soziale Miteinander. Und da passt das Konzept der Urban Farm natürlich hervorragend in diesen Rahmen.

„Eine Frage interessiert mich aber noch“ frage ich Jaakko (links im Bild), der in der Zwischenzeit wieder zu arbeiten begonnen hat. „Der Platz hier zwischen den Geleisen ist durchaus spannend aber als Urban Farm ja doch nicht so leicht zugänglich. Wäre es nicht besser im Sinne Eurer Intention den Urban Garden noch zentraler zu machen?“ „Ja, im Moment sieht es etwas isoliert aus“ unterbricht Jaakko seine Tätigkeit. „Aber dieses ganze Gelände ist hier ein Stadtentwicklungsgebiet. Es bleibt in Zukunft nur die Bahnstrecke über und der  ganze riesige Verschiebebereich der Bahn wird aufgelassen. Da wird dann Wohnraum für tausende von Leuten geschaffen und unsere Urban Farm wird dann wie eine Insel mitten darin liegen – als urbane Oase im Meer der Gebäude.“

Bereit für die Nacht, in der es nicht dunkel wird

Ich lasse Jaakko nun weiterarbeiten, denn es gibt noch viel zu tun. Ein Aquaponic-System zur Zucht von Fischen ist angedacht und der gesamte Urban Garden muss noch dicht gemacht werden, um im Winter nicht einzufrieren. Die Turn Table Farm wird zwar im langen Winter Finnlands nicht bewirtschaftet da einfach die Heizkosten viel zu hoch sind. Doch nun geht es einmal darum soweit alles für die große Juhannus-Feier fertig zu bekommen. Mittsommer ist wahrscheinlich das wichtigste Fest in Finnland, wo ausgiebig gefeiert wird. Und vor allem der Sommer genossen. Mit einer Nacht, in der es nicht dunkel wird, ist der optimale Rahmen gegeben.

Erst gestern hatten sie ein Feuer gemacht, aber nicht nur um den Mittsommer zu feiern und bei dem einen oder anderen Bier die Seele baumeln zu lassen. Es galt auch die Holzbohlen für das Hochbeet auf einer Seite anzukohlen. Durch das Anbren- nen und die Ver- kohlung entsteht eine Schutz-schicht, die den Verrottungs-prozess des Holzes verzögert. An dem einen Hochbeet, das bereits fertig gestellt ist, kann man das verb- rannte Holz im Inneren deutlich erkennen und auf der Außenseite entsteht eine gescheckte Oberfläche aus Holz und Kohle.

Kohle, die auch für die Dampflok gebraucht wird, die jetzt mit lautem Zischen und Fauchen an der Urban Farm langsam vorbeirollt. Die Aficionados sind nun anscheinend mit ihrer Arbeit fertig geworden und wagen sich an eine Ausfahrt mit der schön Turn-Table Farm und Pflanzenrenovierten Lok. Es ist ein pittoreskes Bild – ein Dampfzug aus dem vorigen Jahrhundert, der an einer modernen Urban Farm vorbeizieht. Aber vielleicht ist die Urban Farm gar nicht so modern. Ist sie nicht auch Ausdruck unserer eigenen Sehnsüchte nach dem Alten? Der Überschaubarkeit des Lebens, des immerwährenden Kreislaufs von Entstehen und Vergehen? Der Überwindung der Entfremdung von Natur und damit auch des Anbaus von Lebensmitteln?

Es ist schon spät geworden, doch die Sonne streut noch immer ihre goldenen Strahlen über das Gelände und taucht alles in das wunderbare Licht des finnischen Sommers. Die Dampflokomotive zieht nun etwas abseits ihre Runden auf den Geleisen, die schon bald verschwinden werden. Ich lasse die Turn Table Farm – The Urban Garden hinter mir zurück und  begebe mich an den alten Lokschuppen vorbei in das Stadtleben von Helsinki. Es kommt mir vor, als verlasse ich ein Stück einer alten Zeit und gleichzeitig habe ich das Gefühl, die Zukunft unserer Städte besucht zu haben.

Alle Fotos und Text: über_Land

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